Tocotronic ist vielleicht die Indie-Band Deutschlands. Doof nur, dass ich das erst wusste, nachdem ich das Album gehört hab. Wie klingt das 13. Album von einer der wichtigsten deutschen Bands für jemanden, der sich mit ihr nicht auskennt?
Fangen wir beim Aussehen an. Die großen Letter des Albumcovers schreien einen förmlich an. NIE WIEDER KRIEG, ob das nun ein naiver Utopieglaube ist oder nur T-Shirt Spruch bleibt vorerst unklar. Doch das Komprimieren von viel Aussage auf wenig Wörter findet sich auch in einigen anderen Songnamen wieder. Komm mit in meine freie Welt, Jugend ohne Gott ohne Faschismus, Ich hasse es hier oder Ein Monster kam am Morgen. Könnten auch Reclam-Romantitel sein.
Womit wir beim Inhalt, den Texten wären. Hauptthema: Liebe. Manchmal auch Außenseitertum, Angst, die heutige Jugend, aber meistens Liebe. Manchmal kryptisch, wie in Ein Monster kam am Morgen:
„Ein Monster kam am Nachmittag
Als ich ermattet lag
Ich mag's wie es mich ansieht
dachte ich
Und wie es mich in seinen Armen wiegt“
Und manchmal auch (fast zu) simpel, wie in Liebe:
„Spürst du nicht die Liebe?
Sie verändert dich
Und dreht dich um
Und schaltet dich stumm
Und verdunkelt den Hass
Nur so zum Spaß
Nur die Liebe kann das“
Dabei singt Frontsänger Dirk von Lotzow immer etwas mysteriös, seine tiefe Stimme hat was von einem Erzähler, bei dem man die ganze Geschichte aber erst beim zweiten Mal richtig versteht. Oder zumindest glaubt, sie richtig verstanden zu haben. Ist das jetzt Ironie oder ernste Poesie?
Musikalisch herrscht dagegen etwas mehr Klarheit. Was nicht bedeutet, dass das Album eintönig ist. Das, was man aus Gitarren, Schlagzeug und Bass rausholen und es immer noch Indie nennen kann, findet man auch auf dem Album. Der Großteil der Songs bleibt zwar eher ruhig, fast schon Lagerfeuerartig (Ein Mann zerfällt), ein paar Lieder schieben mich aber schon nach vorne (Komm mit in meine freie Welt), andere haben einen fast hymnischen Vibe (Jugend ohne Gott gegen Faschismus). Das Große, das Hymnenartige funktioniert am besten, wenn die Musik der vier Bandmitglieder auch zu den Erzählungen von Dirk von Lotzow passt. Wie in Hoffnung, einer schon 2020 zur Pandemie entstandenen Single, die trotz düsterem Thema sagenhaft viel Mut stiftet. Vermutlich der für mich tröstendste Song, den diese Zeit hervorgebracht hat.
Wenn es ernst wird in den Songs, wenn der Klang zum Text passt und der Text sich nicht in feuilletonistischer Selbstverwirrung verliert, dann gefällt mir, auch als vorheriger Unwissender, Tocotronic richtig gut. Wer sich die Zeit nehmen möchte, in den zwölf Songs (+3 in der Deluxe Variante) diese Kombination für sich selbst herauszuhören, dem kann ich das Album nur ans Herz legen.
Tobias Pappert, eldoradio*
RÜCKSCHAU
ARCHIV
WOCHE | Künstler/Band | NAME DES ALBUMS/SONGS | MUSIKLABEL |
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KW 23/2017 | Corridor | Supermercado | Requiem Pour Un Twister |
KW 46/2017 | Liima | 1982 | City Slang |
KW 48/2018 | Dan Mangan | More Or Less | City Slang |
KW 22/2017 | Noga Erez | Off The Radar | City Slang |
KW 12/2017 | AllttA | The Upper Hand | On And On Records |
KW 10/2017 | Stormzy | Gang Signs & Prayers | Rhino |
KW 50/2017 | Noel Gallagher’s High Flying Birds | Who Built The Moon? | Indigo |
KW 08/2017 | Clock Opera | Venn | Indigo |
KW 07/2017 | Omar | Love In Beats | Peppermint Jam |
KW 06/2017 | Antilopen Gang | Anarchie und Alltag | JKP |