Schon ab dem ersten Takt ist klar: Alt-J sind mit voller Kraft zurück. Zwei Jahre nach dem umjubelten und mit Preisen wie dem Mercury Prize überhäuften „An Awesome Wave“ macht die Band aus Leeds (die eigentlich ∆ heißt und damit nach einer Tastenkombination auf Apple-Computern benannt ist) auf „This Is All Yours“ genau da weiter, wo sie 2012 aufgehört hat. Bereits mit dem Intro wischen Alt-J alle Erwartungen und den Druck, der so oft auf einem Zweitling lastet, weg, als wäre beides gar nicht da gewesen. Wieder ist der Gesang an vielen Stellen eher Instrument, wieder werden die Songs regelmäßig durch Soundversatzstücke aufgebrochen, die unerwartet und nicht selten konträr zum vorigen Klang sind, wieder schlängelt sich die Band quer durch die Genrelandschaft und wieder gibt Joe Newmans einzigartige und unverkennbare Stimme den Stücken den letzten Schliff. Trotz gleich vieler Songs ist „This Is All Yours“ aber ganze fünfzehn Minuten länger als sein Vorgänger, der bei jedem Hören immer wieder viel zu schnell vorbei war. Alt-J lassen sich diesmal also ordentlich Zeit für alles, was sie ausprobieren und musikalisch durcheinanderwerfen wollen. Schon die ersten Appetizer „Hunger Of The Pine“ und „Every Other Freckle“, die Alt-J früh auf Soundcloud veröffentlichten, zeigten die Richtung auf, die „This Is All Yours“ einschlägt. Es wird beizeiten etwas ruhiger und im Ganzen noch experimenteller, insofern das überhaupt möglich ist.
Nach einem ausgedehnten „Intro“ und dem getragenen „Arrival In Nara“ bereitet „Nara“ mit Kirchenglocken und Hallelujah-Gesang den Weg für getragene Drums, Percussions und Klavierakkorde, die immer wieder Pausen lassen, in denen Joe Newman mit seiner Stimme ganz für sich allein steht. Obwohl „This Is All Yours“ kein Konzeptalbum ist, spielt der Ort Nara eine wiederkehrende Rolle. Im Interview beschreibt die Band Nara als einen Ort, an dem Rehe herumlaufen können, ohne Verletzungen durch Menschen oder Einschränkungen fürchten zu müssen, und schlagen die metaphorische Brücke zu einem Plädoyer für Freiheit, Akzeptanz und ein Leben ohne Bevormundung. Im Text singt Newman dementsprechend aus der Sicht eines Protagonisten, der sich in einen anderen Mann verliebt hat und ihn heiraten will, und möchte den Song explizit als politisches Statement verstanden wissen. Spätestens hier wird Alt-Js Poesie also auch substanziell. Die Hallelujahs sind in diesem Zusammenhang natürlich besonders bedeutungsgeladen.
„Every Other Freckle“ ist in gewisser Weise der thematische Nachfolger von „Breezeblocks“, aus „Please don't go, I'll eat you whole, I love you so“ wird jetzt „Ohhh, devour me!“ Liebe geht bei Alt-J durch den Magen, und zwar wortwörtlich. Der Song hat noch weitere lyrische Offenbarungen zu bieten wie zum Beispiel „Let me be the wallpaper that papers up your room“. Was für eine Liebeserklärung! Der Sound ist Alt-J durch und durch, auf einen ruhigen Beginn folgt ein voller Sound, der mit Percussion, Bass, Gitarren und allem möglichen Beiwerk die gewohnt artsy klingende Anmutung dieser Musik erzeugt. Ein Interlude mit keltischem Sound gibt der Nerdigkeit den Rest, was aber natürlich genau so richtig ist. Die zwei dazugehörigen Videos, die ein ästhetisch wie immer hochklassiger und nur auf den ersten Blick willkürlich erscheinender Mix von mehr oder weniger zusammenhanglosen Filmsequenzen sind, passen perfekt zu diesem Song.
Auf halber Strecke erinnert „Garden Of England“ mit Flötentönen aus dem Zen-Garten abermals daran, dass hier gerade Alt-J läuft, die mit ihrer Experimentierfreude und ihrem Einfallsreichtum immer wieder überraschen. „Choice Kingdom“ führt die Ruhe direkt weiter, wird mit dezenten Pauken und Drums aber etwas opulenter. Auch das mittlerweile bestens bekannte „Hunger Of The Pine“ steht auf dem Album in dieser Nachbarschaft, aus der es durch seinen groovenden Basslauf und das Miley-Cyrus-Sample im Refrain aber deutlich heraussticht. „I'm a female rebel“, singt Cyrus, die Kollaboration kann man Alt-J entweder als Geniestreicher oder als Nerdigkeit um der Nerdigkeit Willen auslegen. Dass der Song auf Französisch endet, ist deshalb einfach nur konsequent. Bei Alt-J darf es vor allem in Sachen Unvorhersehbarkeit immer gerne etwas mehr sein.
Und zu diesem Zeitpunkt sind sie mit ihrer Kreativität noch längst nicht am Ende. „Warm Foothills“ klingt etwas nach chinesischem Schlaflied bis der Song Fahrt aufnimmt und Alt-J dezente Percussions auf die Gitarrenakkorde loslassen. „Warm“ und „Vorgebirge“ hört man definitiv aus der Klangfarbe heraus. Wer genau hinhört, entdeckt außerdem die Stimmen von Lianne La Havas, Conor Oberst (von den Bright Eyes), Sivu and Marika Hackman. Alle vier haben den Song eingesungen, Alt-J arrangierten dann einzelne Wörter der Interpreten zu den kompletten Lyrics. „Blood Flood“ vom ersten Album bekommt mit „Bloodflood Pt. II“ eine elektronisch angehauchte Fortsetzung spendiert, die als vorletzter Song ruhig überleitet in den Abschied von Nara, „Leaving Nara“. Allein die Trias aus „Every Other Freckle“, „Hunger Of The Pine“ und „The Gospel Of John Hurt“ würden für einen weiteren Mercury Prize reichen, gemeinsam mit den restlichen Songs, die den Alt-J-Sound von vorne bis hinten durchdeklinieren, ergibt sich ohne Frage eines der Alben, wenn nicht sogar das Album des Jahres. Einmal mehr. Alt-J wissen einfach, wie es geht. (Benedict Weskott, CT das radio)
RÜCKSCHAU
ARCHIV
WOCHE | Künstler/Band | NAME DES ALBUMS/SONGS | MUSIKLABEL |
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KW 20/2022 | Kendrick Lamar | Mr. Morale & The Big Steppers | UMI/ Interscope |
KW 03/2023 | Joesef | Permanent Damage | Bold Cut / AWAL Recordings |
KW 05/2023 | King Tuff | Smalltown Stardust | Sub Pop Records |
KW 34/2023 | Genesis Owusu | Struggler | Ourness |