Cover: Federico Albanese - The Blue Hour

Crossover kann eine heikle Angelegenheit sein. Gerade im Bereich der Klassik zeigen Acts wie David Garrett oder Lindsey Stirling, dass manche Dinge mit einer Geige vielleicht doch lieber ungetan bleiben sollten. Aber in einer anderen Nische der Musikwelt, die auf Klavier statt Geige setzt, entwickelt sich in letzter Zeit etwas, dass unbedingt Beachtung und Unterstützung verdient. Besonders aus dem Hause Erased Tapes kommt Musik, die je nach Perspektive Neoklassik, Crossover-Klassik, kontemporäre oder experimentelle Klassik genannt wird und Label-Künstler wie Ólafur Arnalds, Nils Frahm oder Douglas Dare bekannt gemacht hat. Wie elegische Pianomelodien in eine zeitgemäße Form gebracht werden können, zeigen auch Martin Kohlstedt, Max Richter, Hendrik Schwarz oder Hauschka als Vertreter dieses eindrücklichen Genres. Und Federico Albanese, der mit seinem Debütalbum The Houseboat and the Moon und dem nachfolgenden Rework-Album bereits Aufmerksamkeit erregte.

Jetzt eröffnet Albanese das neugegründeten Sublabel Neue Meister von Berlin Classics mit seinem Album The Blue Hour. Mit dem Namen ist die Reiseroute direkt vorgegeben und natürlich ist Albanese mit diesem Thema nicht der Erste. Martin Kohlstedt wurde sogar noch konkreter und nannte sein Debütalbum Nacht. Und auch Arnalds und Frahm produzierten ihre Collaborative Works nachts bzw. am frühen Morgen. The Blue Hour ist also erwartbar düster, melancholisch und hypnotisch geworden. Wie die direkte Vertonung von Gefühlen muten die Stücke an, die in einer bis sechs Minuten vollkommen unaufgeregt mehr transportieren als ganze Alben manch anderer Musikschaffender. Elegischen Pianomelodien, verzerrten Synthesizerklängen und vereinzelten Cellopartien entführen weit weg und brennen sich ins Gedächtnis.

Für das Hörverständnis von Neoklassik braucht es Geduld, Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit. Nel Buio dient lediglich als einminütiges Vehikel für Time Has Changed, das die Intensität direkt zu Beginn mit repetitiven Pianomelodien immer weiter in die Höhe schraubt. Und dann setzt Albanese bei knapp drei Minuten die zweite Hand auf die Klaviatur und die Gänsehaut explodiert. Ab diesem Moment fließt die Musik unaufhaltsam weiter, über die Grenzen zwischen den Stücken hinweg und mit einer Erhabenheit, die maximal einnehmend und eindrücklich ist.

Federico Albanese macht Weite hörbar und hält die Zeit ein Stück weit an. Wer sich auf darauf einlässt und die Synapsen freimacht, erlebt ein Kopfkino erster Güte und bekommt mit jedem Hören eine neue Welt präsentiert. Migrants lässt vibrierenden Celli den Vorrang, Shadow Land, Pt. 1 wiederum könnte dem Soundtrack eines französischen Dramas entliehen sein. Das beschwingte And We Follow the Night erinnert an einen Bach, der sich seinen Weg bahnt, und fließt über Shadow Land, Pt. 2 und The Boat and the Cove hin zum Titelstück The Blue Hour, das durch die hallenden Synthesizereffekte tatsächlich klingt wie Musik gewordene leere Straßen mit einsamen Laternen und einem klaren Sternenhimmel darüber. Wie zu Beginn des Albums geleitet Stellify ganz zum Schluss mit mäandernden Pianolinien und nach einer Dreiviertelstunde hinaus aus dem Dunkel. Und dann kann die Nachtfahrt direkt von vorne beginnen. (Benedict Wescott | CT das radio)

RÜCKSCHAU

KW 28/2024
KOKOKO! - BUTU
KOKOKO! BUTU
KW 16/2024
Girl in Red I´M DOING IT AGAIN BABY!
KW 35/2023
Slowdive Everything Is Alive
KW 34/2023
Genesis Owusu Struggler
KW 23/2023
Christine and the Queens ANGELS, PARANOÏA, TRUE LOVE

ARCHIV

WOCHE Künstler/Band NAME DES ALBUMS/SONGS MUSIKLABEL
KW 17/2018 Die Nerven Fake Glitterhouse
KW 18/2018 We Are Scientists Megaplex Groenland
KW 19/2018 Blossoms Cool Like You Universal
KW 20/2018 Janelle Monae Dirty Computer Warner
KW 21/2018 Palace Winter Nowadays Tambourhinoceros
KW 22/2018 Örvar Smárason Light Is Liquid Morr Music
KW 23/2018 Courtney Barnett Tell Me How You Really Feel Mom And Pop Music
KW 24/2018 Kolars Kolars Cloudshill
KW 25/2018 Yuno Moodie Sub Pop
KW 26/2018 Erased Tapes 1+1=X Erased Tapes