Cover: Mykki Blanco - Mykki

Wo anfangen bei Mykki Blanco? Mit der stilbildenden Musik? Beim revolutionären Spiel mit queerer Identität abseits von Heteronormativität und binären Geschlechterbildern? Mit dem unschätzbaren und fast unabsehbaren Einfluss auf die kontemporäre und zukünftige Hiphopkultur?

Egal in welche Richtung der Blick schweift – eines steht fest: Mykki Blancos Debütalbum ist ein weiterer Paukenschlag im diesjährigen Releasekalender. Und dieser Paukenschlag ist nicht nur eine Worthülse, denn auf Mykki wird ordentlich aufgefahren. Mykkis Grandezza und der raumgreifende Klang des Albums sind nicht nur den Produzenten Woodkid und Jeremiah Meece geschuldet, sondern in erster Linie Mykki Blancos Biografie, die für musikalische Aufarbeitungen und Drama mehr als genug Material bietet. Und wo dann auch noch Woodkid in den Credits steht, gehören außerdem Steeldrums und elegische Streichersätze zur Standardausstattung.

Auf Mykki ist aber lediglich High School Never Ends die Woodkid-typische cineastische Produktion anzuhören. Der Song beschäftigt sich mit Jugend und Rassismus, schwuler Skinhead trifft auf eine Transperson – noch mehr Polarität und Weltenclash geht kaum. Geht aber doch, wie Matt Lamberts zugehöriger Kurzfilm zeigt, in dem die Storyline des Songs inklusive Showdown hochästhetisch und in einer brandenburgischen (ja, in dem deutschen Bundesland) Kleinstadt inszeniert wird. Kleine Gesten sind für andere, Mykki Blanco will gleich den ganze Kuchen. Der Opener I'm In A Mood zeigt mit fetten Synthesizersounds und Autotune auf der Stimme direkt in die soundästhetische Ecke, die Mykki mit der Zeit erschlossen und für sich beansprucht hat. Musikalisch in die gleiche Kerbe schlägt The Plug Won’t und rechnet mit der oberflächlichen Clubkultur ab.

Mykki Blanco ist der menschgewordene Beweis für die Unzulänglichkeit von Schubladendenken. Verzerrte Spoken-Word-Passagen im zweiten Interlude offenbaren den sehr persönlichen Kampf mit einer Identität abseits der Norm. Homo, hetero, transgender, nicht-hetero, transsexuell, queer, pan – keine Kategorie passt. Nicht umsonst identifiziert sich Mykki selbst als „non-binary genderqueer post-homo-hop musical artist“. So viele Schubladen, die es zu dekonstruieren gilt, so viele Einschräkungen, die aufgebrochen werden sollen. In der musikalischen Beschäftigung mit diesen Themen offenbart sich ein ungeheures Veräderungspotenzial, das in der immanent misogynen, patriarchalen und heteronormativen Hiphopwelt vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Als wären diese Themenkomplexe noch nicht genug, legt You Don’t Know Me zusätzlich Mykkis positiven HIV-Status in die Waagschale.

Derart angehäufte thematische Gewichtigkeit könnte ein Album schnell erdrücken. Mykki lädt ganz im Gegenteil aber fast durchgehend direkt auf den Dancefloor. My Nene zum Beispiel hat das Zeug zum Bouncer des Jahres. Bedrohlich, düster und tonangebenden Snaps arbeitet sich der Song zwei Minuten durch die Tiefe bis er endgültig zur Cluburgewalt wird. Ebenso die Schwulenclub-Hymne For The Cunts oder Rock N Roll Dough, der ganz zum Schluss noch einmal den Swag hochdreht. Mykki Blancos Debütalbum holt alle direkt vor Ort ab. Kein Blatt vor dem Mund, ohne Hemmungen, ohne Leerstellen. Mykki ist damit nicht weniger als das queere Pendant zu Beyoncés Lemonade – mindestens. (Benedict Weskott, CT das radio)

 

____________
Der Silberling der Woche ist eine Kooperation der Campusradios
CT das radio, Campus FM und eldoradio* unter dem Dach der Campuscharts.
Daher findet ihr hier jede Woche eine Rezension zu einem besonders interessanten Album, wechselweise von den Musikredaktionen dieser drei Campusradios verfasst.
Checkt auch: www.silberlingderwoche.de

RÜCKSCHAU

KW 28/2024
KOKOKO! - BUTU
KOKOKO! BUTU
KW 16/2024
Girl in Red I´M DOING IT AGAIN BABY!
KW 35/2023
Slowdive Everything Is Alive
KW 34/2023
Genesis Owusu Struggler
KW 23/2023
Christine and the Queens ANGELS, PARANOÏA, TRUE LOVE

ARCHIV

WOCHE Künstler/Band NAME DES ALBUMS/SONGS MUSIKLABEL
KW 31/2015 Ducktails St. Catherine Domino Records
KW 26/2014 Malky Soon Eightydays Records
KW 02/2018 Shame Songs of Praise Dead Oceans
KW 13/2015 Courtney Barnett Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit House Anxiety
KW 03/2016 Adrian Younge Something About April II Linear Labs
KW 36/2014 Coves Soft Friday Nettwerk
KW 05/2023 King Tuff Smalltown Stardust Sub Pop Records
KW 19/2017 Slowdive Slowdive Dead Oceans
KW 23/2014 Philipp Gorbachev Silver Album Kompakt/ Cómeme
KW 48/2022 Stella Sommer Silence Wore a Silver Coat Buback Tonträger