Tocotronic - Die Unendlichkeit

Das neue Album der Feuilleton-Darlings Tocotronic bricht mit eigens auferlegten Konventionen: Zum ersten Mal in 25 Jahren Bandgeschichte wagen sich Dirk von Lowtzow und Co. an ein autobiografisches Konzeptalbum. Schmeißt die Band jetzt all den Diskurspop über Bord, mit dem sie sich im Laufe der Jahre etabliert hat?

Ganz so einfach lässt sich diese Frage dann natürlich nicht beantworten. Die Unendlichkeit behandelt wichtige Zeitpunkte in der Vita des Sängers von Lowtzow in chronologischer Reihenfolge, beschränkt sich dabei aber nicht nur auf Individualschicksale; die Texte geben Raum für Anwendung auf gegenwärtige Tendenzen und laden auch weiterhin zur Diskussion ein. Ein Musterbeispiel: das wunderbare Hey Du, das in bester Tocotronic-Manier einerseits das rebellische Aufbegehren von Lowtzows in seiner Jugendzeit thematisiert, andererseits jenes regressive Provinzlertum anklagt, welches all jene ausgrenzt, die auch nur ein bisschen aus der Reihe zu tanzen scheinen.

Dabei beginnt das nun schon zwölfte Album der Band so gar nicht autobiografisch. Im Titeltrack Die Unendlichkeit überraschen Tocotronic neben einer düsteren, atmosphärischen Grundstimmung auch mit Stoner-Rock-Gitarren im Chorus. Der Song setzt auch textlich den Rahmen für das, was folgen soll: eine Aufarbeitung der Vergangenheit, die das Potenzial hat, auch in die Gegenwart und die Zukunft zu wirken, bis hin zur Ewigkeit. Und nicht nur das: Der erste Track zeigt auch, was die Band klangtechnisch auf Die Unendlichkeit bereithält.

Denn Eines wird schon in der Mitte des Albums klar: Tocotronic waren in ihrer musikalischen Ausrichtung selten so verspielt und vielseitig wie auf diesem Album. Mit der Leichtigkeit einer Truppe, die schon seit vielen Jahren zusammen Musik macht, implementiert die Band verschiedene Spielarten des Rocks in ihren Sound. Ein Song wie 1993 spielt mit Stimmenverzerrer, Unwiederbringlich schlittert mit seinem, rein auf klassische Instrumente reduziertem Arrangement ganz knapp auf der Grenze zum Kitsch, bekommt dann aber die Kurve durch seinen ergreifenden Text, der den Tod eines nahen Freundes behandelt. Dass Tocotronic mit dem Kitsch spielerisch umgehen können, haben sie ja spätestens auf dem „roten“ Album (Zucker) bewiesen.

Es wäre falsch, Tocotronic auf ihrem ersten autobiografischen Album Banalitäten oder ähnliches zu unterstellen. Vielmehr haucht die Beschäftigung mit der Vergangenheit neues Leben in die Band und macht Die Unendlichkeit zu einer ihrer abwechslungsreichsten Platten. Auch textlich tut ihnen die Neuausrichtung gut; durch die persönlichen Noten erhalten die Songs mehr Tiefe, sind vor allem vieldeutig und geben dadurch Raum für den Dialog, der außerhalb individueller Perspektiven tritt. Und trotzdem enthält Die Unendlichkeit immer noch genug Tocotronic der älteren Platten, mit all ihrem Wortwitz und dem detaillierten Blick auf Phänomene des Alltagslebens.

(Pierre Rosinsky, CT das radio)

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